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Unschuldig in Haft - aber schuld am eigenen Tod?

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Ameds Familie kommt aus dem hauptsächlich kurdisch besiedelten Afrin. Er verbrachte aber seine frühe Kindheit in Libyen und kehrte erst mit zehn Jahren nach Syrien zurück. Dort war er politisch aktiv und flüchtete mit seiner Familie in die Türkei, um später über die Balkanroute im März 2016 Deutschland zu erreichen. Haft- und Foltererfahrungen in Syrien führten bei ihm zu psychischen Problemen und zu post-traumatischen Belastungsstörungen, die auch seinem Umfeld bekannt waren. Ende 2016 wird er aber nach Ungarn abgeschoben und auch dort während der Haft misshandelt. Anfang 2017 wird die Abschiebung revidiert und er kann nochmals im Kreis Kleve Asyl beantragen. Aufgrund fehlender Ausweisdokumente, die in Ungarn abhandenkamen, erhält er in Deutschland auch keine Asylbewerberleistungen oder finanzielle Hilfen. Er muss sich allein durchschlagen und lebt teilweise in Obdachlosigkeit.

Bei einem Badeseeaufenthalt im nordrhein-westfälischen Geldern am 06.07.2018 näherte er sich einer Gruppe junger Frauen. Er legte sich nach einem Gespräch in ihre Nähe und soll laut den Zeug:innen anzügliche Bemerkungen gemacht haben. Der junge Mann wirkte jedoch laut einem späteren PUA-Bericht (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss, im Folgenden wird daraus mit PUA Kleve zitiert; Anm. Red) relativ hilflos auf die Gruppe und aufgrund seiner schmächtigen Figur nicht bedrohlich. Den jungen Frauen fielen auch die körperlichen Wunden und Narben an Ameds Körper auf; Resultate seiner Hafterfahrungen in Syrien. Nach einiger Zeit wollten sie, dass er geht und warnten ihn, dass sie ansonsten die Polizei rufen werden. Amed entfernte sich auch. Dennoch rief eine Frau aus der Gruppe ihren Vater an, einen Polizisten, der wiederum seine im Dienst befindlichen Kollegen verständigte, die mit zwei Streifenwagen zum See fuhren. Sie nahmen Amed mit auf die Polizeiwache, da er sich nicht ausweisen konnte. Doch dabei blieb es nicht: Er kam nicht nur aufs Revier, sondern von dort aus direkt in die JVA Kleve, da die Polizisten einen mutmaßlichen Straftäter in ihm zu erkennen glaubten. Das ihm unterstellte Sexualdelikt stellte sich bereits vier Tage danach, am 10.07.2018, als erfunden heraus. Für den bereits Inhaftierten blieb dies jedoch ohne positive Folgen.

Wegsperren und Vergessenmachen

Amed wurde angeblich auch aufgrund eines fehlerhaften Abgleichs und einer Namensähnlichkeit mit einem mittels Haftbefehl gesuchten malischen Geflüchteten, Amedy G., in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Kleve transportiert. Die vorhandenen Bilder in der Landesdatenbank ViVa und auf INPOL wurden nicht abgeglichen, aber seine Daten mit denen Amedy G.‘s zusammengeführt. In der ViVa Datenbank war er nunmehr als Amedy G. abgespeichert, der wegen kleinerer Delikte polizeilich gesucht wurde. Ein Blick in die Akte und die dort gespeicherten Bilder hätten gezeigt, dass zwischen beiden Personen keinerlei Ähnlichkeit bestand. Aber die kurze Mühe machte sich im Polizeirevier oder in der JVA Kleve niemand.

Amed verblieb zwei Monate in der JVA, obwohl schon nach drei Wochen jede:r von der Anstaltspsychologin bis zur Polizei Kleve wusste, dass es sich bei Amed nicht um Amedy G. handelte.

Ginge man davon aus, dass die Sicherheitsbehörden tatsächlich dachten, Amedy G. vor sich haben, dann hätte Amed nach Zahlung von 285,- Euro die JVA jederzeit verlassen können, wobei es unklar blieb, ob er darauf hingewiesen wurde. Gegen Amedy G. liefen zwei Verfahren wegen Diebstahlsdelikten in Hamburg für die er zu einer Geldstrafe von 285,- Euro verurteilt wurde, die als Ersatzfreiheitsstrafe zu vollstrecken war. Insgesamt 20 Beamt:innen waren mitunter mit dem Fall befasst, doch keine:r gab sich die Mühe, Fotos abzugleichen, auf Ungereimtheiten oder auf den Fehler beim Namensabgleich hinzuweisen.

Nach zwei Monaten verbrannte Amed in seiner Zelle.

Der Bericht des Untersuchungsausschusses bestätigt, dass Amed am Tag des Brandes am 17.09.2018 dreimal unproblematisch die Rufanlage in seinem Haftraum betätigt hatte, um zu duschen und am Abend zu essen. Zuletzt wollte er wohl noch Feuer für eine Zigarette. Gegen 19:00 Uhr soll er laut Abschlussbericht seine Laken, die Matratze und Toilettenpapier angezündet haben. Um 19:19 Uhr soll die Notrufanlage (Lichtruf) mehrfach betätigt worden sein, worauf sich aber nach Aussagen der JVA niemand aus der Zelle gemeldet haben soll. Nachdem Amed das Fenster seiner Zelle öffnete und der Rauch nach draußen strömte, meldeten sich die anderen Gefangenen und es entstand ein Tumult. Die Beamten begannen ihre Suche nach dem Brandherd allerdings zunächst in den oberen Etagen, so dass sie erst 15 Minuten später in seiner Zelle ankamen. Die Brandmeldeanlage der JVA Kleve war zudem nicht mit der Leitstelle der Berufsfeuerwehr verbunden. Amed erlitt in seiner Zelle erhebliche Brandverletzungen und eine Rauchgasvergiftung. Rund 40 Prozent seiner Haut waren verbrannt und seine Organe innerlich kollabiert. Er verstarb an seinen inneren und äußerlichen Verletzungen knapp zwei Wochen später im Krankenhaus. Dass Amed die Sprechanlage aus seiner Zelle, während der Zeit des Brandes betätigt hatte, konnte erst über die Protokolldaten des privaten Anbieters bewiesen werden. Der Justizminister und die Landesregierung NRW hatten zunächst bestritten, dass in der JVA-Zentrale ein Hilferuf eingegangen war und dies erst dann zugestanden, als die Daten offenkundig vorlagen (PUA Kleve 2022: 1177 f.). Der Beamte in der Zentrale hatte den Anruf angenommen und behauptete, auf die mehrfache Nachfrage, was denn los sei, habe niemand geantwortet.

Während dieser Aspekt im Hauptbericht des PUA Kleve vernachlässigt wird, geht dieser aber sehr dezidiert auf einen Bericht des WDR-Magazins Monitor aus dem Jahr 2019 ein, um die dortigen Bedenken über die Ereignisse an dem Tod von Amed Ahmad als effekthascherischen und unseriösen Journalismus darzustellen. Der Bericht stütze sich auf aus dem Zusammenhang gerissene Halbsätze der Expert:innen, so der Befund des Ausschusses (ebd., 719 ff.).

Blaming the victim

Zusammenfassend kommt der Bericht des Untersuchungsausschusses zu dem Ergebnis, es habe sich um vorsätzliche Brandlegung durch Amed in seiner eigenen Zelle gehandelt, wobei die Gründe der Inhaftierung in den Hintergrund rücken und als tragische Verwechslung bezeichnet werden. Im Gesamtergebnis steht zudem, dass Amed sich trotz ausreichender Deutschkenntnisse nicht an die Anstaltsleitung gewendet habe, um den Fall aufzuklären, seinen Pflichtverteidiger hätte er nicht besucht und seine eigenen Rechtsanwaltskontakte nicht hinzugezogen (ebd., 1111 ff.).Damit wird die Schuld auf den unschuldig in der JVA sitzenden Amed Ahmad geschoben. Und es ist obendrein eine Lüge. Zeug:innen aus der JVA gaben im Gegenzug dazu an, dass Amed sich auf seine Entlassung freute und zuvor keine suizidalen Äußerungen gemacht habe. Der Haftanstaltsleiter der JVA Kleve hatte erst am 19.09.2018, also zwei Tage nach dem Brand, um eine Haftunterbrechung für den Verletzten bei der Staatsanwaltschaft Hamburg gebeten, die am 28.09.2018 dessen unverzügliche Entlassung aus der Strafhaft angeordnet hatte. Nur einen Tag später, am 29.09.2018, verstarb Amed im Krankenhaus (ebd., 762). Die rechtswidrige Inhaftierung in der JVA sei, so verbleibt dennoch der Befund des PUA, nur ein technisches und individuelles Versagen gewesen. Also alles nur eine Verkettung unglücklicher Umstände?

Per Sondervotum kritisieren SPD und Bündnis 90/Grünen im Abschlussbericht, dass der Ausschussvorsitzende (CDU) nicht genügend Zeit für die Durcharbeitung der 1.400 Seiten gelassen und der Bericht sensible Daten über Amed Ahmad offenbart habe. Zudem schreibe der Bericht die Schuld an den Ereignissen auch dem Verhalten des Toten zu, während zeitgleich fünf verschiedene Behörden im Verantwortungsbereich von NRW-Innenminister Herbert Reul an den Ereignissen maßgeblich beteiligt waren. Auch nachdem die Fahndungsdatensätze von Amed Ahmad und Amedy G. am 23.08.2018 getrennt wurden, hinterfragte niemand die darin vermerkte Haft von Amed (ebd., 1141 ff.). Weder wurde die Unschuldsvermutung zugunsten des Inhaftierten ausgelegt, noch interessierte sich jemand in den Behörden für dessen Freiheitsrechte.

Bereits eine Nachnamen-Suche des Amedy G. im ViVA-Datensatz hätte ein Lichtbild gezeigt, auf dem ein anderer Mann zu sehen war. Auch die Haftbefehle liefen nicht auf den Nachnamen Ahmad, sondern auf den von Amedy G. In der Datenbank tauchte Amed Ahmad aufgrund der Zusammenlegung dreimal auf: Er wurde in rassifizierende Kategorien, einmal als „hellhäutig“ und, wegen der Zusammenlegung mit Amedy G., zweimal als „schwarzhäutig“ sortiert. Um das dazugehörige Bild aufzurufen wären nur zwei bis drei Mausklicks erforderlich gewesen (ebd., 1158 f.). Auf der Polizeiwache Geldern wurde Amed anscheinend noch nicht mal über seine Rechte und die Gründe seiner Haft belehrt, da das Dokument von den Polizist:innen nicht unterschrieben wurde. Die beteiligten Beamt:innen zeigten damit nicht einmal das Mindestmaß an zuverlässiger Diensterfüllung.

Es kommt aber noch schlimmer: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig, bei der ein Verfahren gegen Amedy G. lief, wies die Kreispolizeibehörde Kleve am 27.07.2018 – also mehr als eineinhalb Monate vor seinem Tod - darauf hin, dass Amed nicht der im Haftbefehl gesuchte Täter sei. Der verantwortliche Kriminalhauptkommissar reagierte nicht auf diese Warnung, obwohl er direkt nach der Warnung eine INPOL Abfrage startete, wo die Lichtbilder zu sehen waren (ebd., 1161 ff.). Auf die augenscheinlichen Widersprüche reagierte dieser nicht. In der JVA Geldern wurde der Namensunterschied auf dem Haftbefehl und der Festnahmeanzeige angemerkt, aber ignoriert. Die Ermittlungen gegen sechs Polizist:inen wegen Freiheitsberaubung wurden Ende 2020 eingestellt.

Defacto Freiheitsstrafe ohne Urteil

Einem Mitgefangenen gegenüber äußerte Amed, dass er nicht wisse, warum er inhaftiert sei; er denke, es sei wegen einem Handyvertrag, den er nicht bezahlt habe oder wegen einem Fahren ohne Bahnticket. Tatsächlich aber wurden ihm (bzw. Amedy G.) für das Jahr 2015 mehrere Delikte in Hamburg vorgeworfen – einer Stadt, in der er kein einziges Mal in seinem Leben war. 2015 war Amed noch nicht einmal in Deutschland (ebd., 1173). Auch vor der Anstaltspsychologin hatte Amed am 03.09.2018 erklärt, er wisse nicht, warum er im Gefängnis sei, die Urteile habe er nie gesehen, Amedy G. kenne er nicht, sein Geburtsdatum auf den Dokumenten sei falsch und er wäre erst im März 2016 nach Deutschland eingereist. Amed wies damit klar darauf hin, dass er unschuldig inhaftiert wurde. Doch eine Klärung wurde auch von der Psychologin nicht herbeigeführt; sie glaubte ihm nicht und meinte, er hätte sich nicht vehement genug gegen seine Inhaftierung zur Wehr gesetzt. Eine Suizidalität, bestätigt die Initiative Amed Ahmad 2021 in einem Bericht, konnte sie nicht erkennen. Amed wurde sogar in der JVA Angst davor gemacht, dass er nach Ende der Haft nach Syrien abgeschoben werde, wo er, wie gesagt, bereits gefoltert wurde (PUA Kleve 2022: 1175 f.). Der Pflichtverteidiger, von dem der Untersuchungsausschuss spricht, hatte laut dem Minderheitsvotum nie Kontakt zu ihm aufgenommen, legte aber ohne dessen Kenntnis und Einwilligung Erklärungen in seinem Namen ab (ebd., 1172).

Das Sondervotum der Minderheitsfraktionen geht ebenfalls von einer eigenen Brandlegung durch Amed aus, kritisiert aber das Brandgutachten vom 26.10.2018. Der Brand- und Explosionsursachengutachter und Chemieingenieur habe in sein Gutachten auch psychologische und medizinische Fragestellungen aufgenommen und gemutmaßt, dass die Brandlegung vorsätzlich und vermutlich in suizidaler Absicht erfolgt sei (ebd., 1185 f.). Dies habe er so in das Gutachten geschrieben, weil in den Akten die Rede davon war, dass Amed depressiv gewesen sei, wobei er komplett außerhalb seines Kompetenzbereiches Schlüsse gezogen habe. Mediziner:innen hingegen konnten eine suizidale Absicht nicht bestätigen; mehrere Gründe seien denkbar gewesen, wie „Aufmerksamkeitserregung, Spieltrieb oder ein Versehen“. Trotz dieser Erkenntnisse nahm das Justizministerium die Sichtweise des Brandgutachters an und wiederholte sie im November 2018 vor dem Rechtsausschuss des Landtags NRW.

Todesgrund: Staatlicher Rassismus

Ameds Vater, Zaher Ahmad, wurde weder über die Inhaftierung noch über die Tatsache, dass sein Sohn fast zwei Wochen im Krankenhaus lag und dort verstarb, informiert. Er musste sich selbst am 04.10.2018 bei der Polizei erkundigen, ob der Tote, von dem im Internet Bilder kursierten, sein Sohn sei (ebd., 1191).

Vor allem Kriege haben in den letzten Jahren zur millionenfachen Vertreibung und Auswanderung von Menschen geführt. Ihre Schicksale interessieren die Dominanzgesellschaft, wie Ameds Foltererfahrungen oder Traumatisierungen, nur rudimentär. Der Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes nach neuen Arbeitskräften machte Geflüchtete zu wichtigen Arbeitskräften im Niedriglohnsektor, nach denen in Deutschland bereits vor 2015 eine große Nachfrage bestand. Heute werden schlecht bezahlte Tätigkeiten in der Gastronomie, dem Reinigungsgewerbe, dem Bausektor, der Paketdienste und allgemein in der Zeit- und Leiharbeit hauptsächlich von Geflüchteten und anderen Einwanderer:innen getragen, über deren Existenzkampf heute eher wenig zu hören ist. Die als nicht-nützlich eingestuften hingegen, die die es nicht schaffen, oder die, wie Amed, das Land der Hoffnung nur traumatisiert erreichen, sollen so schnell wie möglich wieder abgeschoben werden.

Genaue Beobachter:innen des Falles schließen aus dem Verhalten der Sicherheitsbehörden und Ameds kafkaesker Inhaftierung eine Nachwirkung der sogenannten Kölner Silvesternacht 2015/16. In deren Folge war es durch die rechtspopulistische Stimmungsmache zu einer generellen Kriminalisierung und schärferen Repression gegenüber Refugees gekommen. Migrant:innen und vor allem Geflüchtete wurden im Nachgang der Ereignisse anhand der polizeilichen Benennungen (Stichwort „Nafri“), mit anti-muslimischer Zuordnung, monatelang in den Medien und der Politik aber auch in der Gesellschaft skandalisiert. Neben dem chronischen gesellschaftlichen Nicht-Wahrnehmen von Rassismus wurden wir Zeug:innen eines beinahe kollektiv-akzeptierten rassifizierten Sehens und eines flankierenden Schreibens in den Medien. Die anfängliche Begeisterung („Willkommenskultur“) war verschwunden und es konnte beobachtet werden, wie ältere rassistische Formationen, die auch im Sarrazindiskurs dominant waren, ihr hässliches, bürgerliches Gesicht in aller Öffentlichkeit zeigten.

Die hegemonial inszenierte Moralpanik zur Kölner Silvesternacht 2015/16 und die polarisierende, rassifizierende mediale Darstellung machte aus Geflüchteten ziemlich bald „Feinde der Gesellschaft“, derer sich die Polizei wie auch andere Staatsapparate auf ihre Weise annahmen. Ameds Fall führt diesen Prozess vor Augen. Wie Vanessa E. Thompson (2022) schreibt, sind Tötungen an armen Schwarzen, migrantischen und asylsuchenden Menschen im Staatsgewahrsam nichts Neues, so wie es u.a. die Ermordung und Verbrennung Oury Jallohs im Polizeigewahrsam in Dessau 2005 offenbarte. Es gäbe immer schon Rassismus, der nur diskriminiert, und einen Rassismus, der tötet. Teile der Gesellschaft müssten sich ständig dagegen wehren, nicht getötet, sozial isoliert, deportiert und polizeilich inhaftiert zu werden.

Institutioneller Rassismus drückt sich nicht nur in direkter Gewaltanwendung durch staatliches Personal aus und ist nicht abhängig von einer rassistischen Gesinnung der Beamt:innen. Hier zieht sich die Kette von der Polizei bis zur JVA, von der Psychologin bis zur Anstaltsleitung, und damit zum Innenministerium. Zumeist wirkt der staatliche Rassismus auf subtiler Ebene, nimmt Umwege über neutrale Formulierung und Gesetzestexte, wie auch Verwaltungsvorschriften. Bei der Anzeigeaufnahme, vor Gerichten und Behörden wird den Stimmen der Betroffenen, Asylsuchenden und als kriminell Gebrandmarkten kein Gehör geschenkt, sie werden nicht ernst genommen oder es wird ihnen ein Eigenanteil an den Verletzungen, die sie erlitten haben, zugeschrieben. Es interessierte die Beamt:innen im Gefängnis nicht einmal, ob die Person zu Unrecht im Gefängnis saß, da dieser Geflüchteter war. Und hinter verbrannte. Der besagte Kriminalhauptkommissar (KHK) ignorierte sogar den Hinweis zur Haftentlassung Ameds durch die Staatsanwaltschaft Braunschweig. Hätte er dies bei einem Bio-Deutschen auch so getan?

Ignoranz ist ein zu schwacher Begriff, um die Umstände am Haftverbleib zu erklären. Man muss sich beispielhaft vorstellen, wie eine Behörde reagiert hätte, wenn es sich um eine Person mit deutschem Namen gehandelt hätte und nicht um einen Asylsuchenden aus dem Nahen Osten mit geringer bis keiner Beschwerdemacht. Die Eltern, selbst Geflüchtete ohne Deutschkenntnisse, wurden von den Behörden nicht einmal informiert. Die gesellschaftliche Dimension nach der Tat ist ebenso erschreckend. Eine Person verstirbt in Haft und es kommt heraus, dass sie unschuldig in Haft war, dass dessen Hilferuf aus der Zelle über die Kommunikationsanlage so lange verheimlicht wurde, bis der private Anbieter die Daten offenbarte, während Justizvollzugsangestellte über mehrere Monate mindestens geschwiegen und ein KHK eine staatsanwaltschaftliche Weisung ignoriert hatte. Die Initiative Amed Ahmad fasst dies wie folgt zusammen:


„Wir klagen ein System der Entmenschlichung und der Abwehr von Verantwortung an, wir klagen diese gesellschaftlichen Verhältnisse an, die so einen Tod möglich machen und bei einem Großteil der Menschen nur Gleichgültigkeit erzeugen.“ (Initiative Amed Ahmad 2021)


Die Sicherheitsbehörden scheinen in Ameds Fall nicht nur ihrem repressiven Auftrag gefolgt und diesen auch Jahre nach der Silvesternacht mit undemokratischer, nicht-rechtstaatlicher Willkür umgesetzt zu haben. Sie folgten anscheinend auch einem „höheren“ öffentlichen Auftrag, die Gesellschaft vor Geflüchteten aus dem Nahen Osten, einer Gruppe von Menschen der unteren Klasse, zu beschützen.

Der Tod Amed Ahmads ist daher keine „Blamage des Rechtsstaats“ oder eine „behördliche Panne“, sondern das Ergebnis des inhärenten institutionellen Rassismus in den Sicherheitsbehörden und des herrschenden Zweiklassenstrafrechts. Es liefert einen analytischen Blick in die Staatsapparate und zeigt die Gleichgültigkeit erzeugende Macht rechtpopulistischer Diskurse in der bürgerlichen Gesellschaft auf.

Aktuelle Informationen

Nach drei Jahren hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen jetzt eingestellt. Die Initiative Amed Ahmad plant eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Justizministerium in NRW und will ein juristisches Fachgutachten zum gesamten Komplex einholen. Am 13.10.2023 um 17:00 Uhr findet vor dem Landtag Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf eine Kundgebung zum Tod von Amed Ahmad statt.

Zudem wurde im Bundespetitionsausschuss in Berlin eine Petition auf Familienzusammenführung für Rafarin Ahmad, die Schwester von Amed, gestartet, die vom Erdbeben in der Türkei betroffen war sowie für Sipan Ahmad, den Bruder von Amed, der im irakischen Kurdistan in einem UNHCR Camp lebt. Mehr Informationen sind auf der Webseite der Initiative Amed Ahmad zu finden.

Im Artikel genutzte Quellen

Alp Kayserilioğlu (2017): Doch keine ‚Terrornacht der Nafris‘. Ein antirassistischer Nachschlag. In: re:volt magazine vom 24.09.2017.

Andreas Wyputta (2020): Tod von Amad Ahmad in der JVA Kleve. Behördenversagen mit Todesfolge, in: Taz Online vom 21.06.2020.

Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund (2020): Trauer, Wut und Widerstand. Antirassistische Initiativen und Gedenkpolitik. [Online-Dokumentation]

Initiative Amed Ahmad (2021): Für das Leben und die Würde, gegen den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus. Amed Ahmad, das war Mord! In: Kurdistan Report 2021.

Fanny Schneider/Maria Breczinski (NSU-Watch NRW): Der „Fall Amad A.“ - Einblicke in die Arbeit des „Untersuchungsausschusses Kleve“. In: Lotta-Magazin vom 20.01.2020.

Fidelius Schmid (2018): Verwechslungsopfer hätte Gefängnis für 285 Euro verlassen können. In: Spiegel-Online vom 02.11.2018.

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss NRW III (Kleve), Drucksache 17/16940, Schlussbericht vom 05.04.2022.

Stefan Buchen/Philipp Henning (2019): Kleve: Fehlerkette beim Tod eines Häftlings. In: NDR vom 19.01.2019.

Vanessa E. Thompson (2022): Von Black Lives Matter zu Abolitionismus. In: analyse & kritik (ak) vom 25.05.2022.

WDR Monitor (2019): Tod in der Zelle: Wurde der Syrer Amad A. Opfer von Polizeiwillkür? In: WDR vom 4.4.2019.