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Bereiten wir uns auf eine widerständige Zeit vor!

planet over profit.jpg Joe Brusky | Flickr

Der folgende Debattenbeitrag von Ökologisch Radikal Links ist eine Antwort auf den im April veröffentlichten Beitrag von Kritik & Praxis Frankfurt. Wir rufen weiterhin alle antikapitalistischen Zusammenhänge und Organisationen dazu auf, sich an dieser Debatte zu beteiligen, Beiträge einzureichen und gerne auch Widerspruch und Kritik zu leisten. Selbstverständlich sind auch antifaschistische Beiträge gewünscht, wie auf die derzeit größeren Mobilisierungen rechter und verschwörungsmythischer Akteur*innen Widerstand von links geleistet werden kann.


Mit dem Ausbruch des Virus SARS-CoV-2 in Deutschland und weltweit, und dem damit verbundenen Lockdown, wurde die Form unserer politischen Arbeit vor weitreichende Probleme gestellt. Nicht nur mussten wir von persönlichen Treffen auf Videokonferenzen umsteigen, auch musste unser gesamtes geplantes Konzept umgearbeitet werden. Was ursprünglich als eine Plattform zur Mobilisierung für den Global Climate Strike am 24. April 2020 geplant war, hat sich nun der Bildungsarbeit verschrieben. Wir machen eine Social-Media-Kampagne zur Geschichte und Gegenwart ökosozialer Kämpfe und der letzte Vortrag unserer Online-Veranstaltungsreihe hat bereits stattgefunden. Außerdem wurden mehrere Aktionen im physischen und virtuellen Raum durchgeführt.

So geht es nicht nur uns. Viele Gruppen und Organisationen versuchen neue Wege der Kommunikation und Organisation zu finden. Die aktuellen Ereignisse zeigen jedoch, wie starr und unvorbereitet die Strukturen großer Teile der radikalen Linken sind, wie schwer sie sich tun, in dieser plötzlichen Krisensituationen agieren zu können, in der wir wegen „social distancing“ weitgehend aus dem privaten Raum heraus agieren müssen und auf das Internet zurückgeworfen sind.

Die Genoss*innen von Kritik & Praxis Frankfurt kommen in ihrem Debattenbeitrag zu dem –trivialen, aber natürlich richtigen Ergebnis, dass es für eine politische Praxis auch in Zeiten von Corona nicht reicht „Transparente aus dem Fenster zu hängen oder Online-Demonstrationen zu veranstalten“. Der Beitrag schließt mit der Forderung, mehr über die Art und Weise einer politischen Praxis in Zeiten der Pandemie nachzudenken. Das ist richtig, geht allerdings nicht weit genug. Uns muss klar sein, dass eine politische Praxis nicht nur in unseren Köpfen, sondern allein durch aktives Agieren und Ausprobieren entsteht, und dann auch ausgehandelt werden kann. Das zeigt uns die Corona-Krise deutlich auf. Die radikale Linke muss also schnell aus ihrer Ohnmacht erwachen. Über die Art und Weise politischer Praxis nachzudenken ist erst die halbe Miete: wir müssen das Wissen, die Erfahrungen und die Handlungsbasis für neue Formen von politischer Praxis für die Zeit des Lockdowns und danach schaffen, und zwar eigentlich schon vorgestern und nicht erst übermorgen. Das gilt für eine Praxis im Ausnahmezustand, wie auch für die Zeit danach.

Aus Fehlern lernen

Als radikale Linke sind wir in unseren Aktions- und Organisierungsformen oft wenig spontan. Das war auch schon vor Corona so, tritt nun aber viel stärker zutage. Bei unvorhersehbaren, sich überschlagenden Ereignissen können weite Teile der Bewegung oft nur schwerfällig, oder gar nicht agieren und reagieren. Immer wieder treten Situationen ein, in denen wir mit unserer einstudierten Praxis an die Grenzen unserer üblichen Strukturen von wöchentlichem Plenum und choreographierten Demonstrationen geraten. Selbst im Falle positiver Ereignisse - zum Beispiel spontan entstehender Bewegungen wie Fridays for Future oder den Protesten der Gelbwesten in Frankreich - versteigt sich ein großer Teil der Linken regelmäßig in Diskussionen über ein Für und Wider, ohne daraus eine Praxis zu entwickeln. Letztere ist aber dringend nötig. In der konkreten Auseinandersetzung muss ein aktiver Umgang mit neuen, spontanen Bewegungen gefunden werden - und zwar, indem versucht wird, gemeinsame Kämpfe aufzubauen, zu unterstützen und sie mitzugestalten. Nur so können wir neue Erkenntnisse und Erfahrungen über soziale Phänomene und eine politische Praxis gewinnen, die sich aus rein intellektueller Distanz nicht verstehen lassen.

Auf negative soziale Ereignisse können wir als radikale Linke in weiten Teilen noch schlechter reagieren. Diese scheinen, wenn sie über uns hereinbrechen, zu einer Art Lähmung zu führen. Es wirkt fast unmöglich, in solchen Situationen selbstbewusst aus der Defensive wieder herauszutreten und zu agieren. Bis heute sind wir als radikale Linke zum Beispiel nicht aus der Schockstarre erwacht, die durch den Rechtsruck in der Gesellschaft und den Rechtspopulismus des Grünen-Politikers Boris Palmer, bis hin zur AfD, ausgelöst wurde. Die Sehnsucht eines Großteils der Menschen nach autoritären Krisenlösungen offenbart sich etwa im Erstarken der CDU/CSU, oder dem grassierenden Denunziantentum in der Gesellschaft. Immer wieder etwa gab es in jüngster Zeit Meldungen, Nachbar*innen hätte die Polizei zugerufen, da sich im Nebengarten/-haus mehr Menschen aufhalten würden, als nach Infektionsschutzverordnung erlaubt. Wir haben es nicht geschafft, eine wirkmächtige Strategie und Bewegung gegen das Erstarken rechter Diskurse und deren Geltungsmacht aufzubauen. Sowohl die konkreten Interventionen von „Nationalismus ist keine Alternative“, als auch die breit angelegten gesellschaftlichen Bündnisse von „Unteilbar“ müssen als wichtige und richtige Versuche gewertet werden. Jedoch sind auch sie nicht über eine symbolische Wirkung hinausgegangen. Warum nicht?

Diese Erkenntnisse müssen vor allem jetzt in Zeiten der Corona-Pandemie für unsere linksradikale Politik eine wichtige Rolle spielen. Wir müssen aus diesen Fehlern lernen. In der aktuellen Situation ist es notwendig, staatliche Einschränkungen des Lebens und der politischen Handlungsfähigkeit mit ihren autoritären Phantasien zu hinterfragen. Darunter fällt etwa das faktische Versammlungsverbot. Insbesondere mit Blick auf die Ökonomie zeigt sich die Willkür der Durchsetzung des Infektionsschutzes: so werden hier Arbeitsschutzrechte nur mangelhaft durchgesetzt, um die Profite des Kapitals weiterhin zu ermöglichen. Ziel muss es jedoch auch sein, die Infektionskette kurz, die Infektionsrate niedrig und die Infektionskurve flach zu halten – damit die durch die neoliberalen Einsparungen im Gesundheitssystem eingeschränkten Kapazitäten nicht überfordert werden. Nur so kann auch die Sterberate so gering wie möglich gehalten werden. Ein schwieriges Dilemma für die radikale Linke - dennoch müssen wir jetzt proaktiv werden!
Die Gesamtheit der Folgen der Corona-Krise ist nicht absehbar. Wir müssen uns aber in jedem Fall auf eine sich zuspitzende Krise des Kapitalismus vorbereiten. Hinzu kommen eine Fortsetzung und Verschärfung der autoritären Formierung, die sich schon jetzt durch das Vorgehen der Polizei offenbart. So werden bei Aktionen und Demonstrationen vermehrt die Identitäten der Aktivist*innen aufgenommen und ihnen Platzverweise erteilt, auch wenn Abstand gehalten wird und Masken getragen werden. Das autoritäre Verhalten gipfelt in der Aussage, Demonstrant*innen müssten nur ihre Schilder ablegen, dann dürften sie am selben Ort stehen bleiben. Es nützt also nichts, mit der Vorbereitung auf diese Zustände anzufangen, wenn es bereits zu spät ist.

Einen Masterplan, wie wir jetzt aktiv werden und uns auf das Kommende vorbereiten können, kann es dabei nicht geben. Wir müssen Lücken und neue Wege finden, in denen wir handlungsfähig sind, und diese nutzen! Dafür ist es nötig, dass wir uns Wissen aneignen und in dieser praktischen Auseinandersetzung längerfristige Strategien finden. So öffnen Online-Formate etwa neue Möglichkeiten internationaler Solidarität. Diese neuen Erfahrungen können auch für die Zeit nach der Pandemie wichtig sein.

Fragend schreiten wir voran

Unser Anspruch als Organisierung war von Anfang an, zur Vorbereitung auf eine widerständige Zeit anzuregen. Das bedeutet für uns, dass wir versuchen, uns und andere weiterzubilden und uns gegenseitig für die Aneignung widerständiger Aktionsformen zu inspirieren. Bildung, die nicht von unserer Praxis losgelöst ist, sollte momentan, da wir aktionistisch eingeschränkt sind, eine zentrale Rolle einnehmen. Die von uns kurz aufbereiteten Texte zu ökosozialen Kämpfen oder auch Videos von Aktionen mit Forderungen können hier beispielhaft genannt werden. Wir werden in der kommenden Zeit dem Themenfeld der Enteignung mehr und mehr Aufmerksamkeit schenken. Es müssen konkrete Forderungen aufgestellt werden, die für eine Gesellschaft abseits der kapitalistischen Verwertung erkämpft werden müssen. Die Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung und Bildung, zum Beispiel eine übergreifende und höhere Reichweite, wollen wir dabei nicht ungenutzt lassen. Dabei schaffen Nachbarschaftsinitiativen, die über Chats laufen, eine Plattform, um lokal mehr Menschen als üblich zu erreichen. Online-Veranstaltungen eröffnen Möglichkeiten zur internationalen Vernetzung und Solidarität.

Die im Zuge der Corona-Krise entstandenen Nachbarschaftsinitiativen, in der auch der Großteil von uns, wie auch der restlichen radikalen Linken, in vielen Großstädten aktiv ist, sind Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das Bewusstsein für gesellschaftliche Probleme und die damit zusammenhängende Notwendigkeit solidarischen Zusammenwirkens, auf die die radikale Linke und andere Akteur*innen seit Jahren versuchen aufmerksam zu machen, scheint in der breiteren Gesellschaft zu steigen. Gleichzeitig sind und ersetzen die entstehenden Nachbarschaftsnetzwerke keine neue Bewegung. Vielmehr müssen wir diese Entwicklungen als Chance begreifen, um unsere Themen auch in der breiteren Gesellschaft zu platzieren und die entstandenen Netzwerke über den Lockdown hinaus als Strukturen beizubehalten. Unsere Politik muss über solidarische Nachbarschaftshilfe hinausgehen. So markieren die Proteste und Aktionen bezüglich der EU-Außengrenzen einen Versuch, das gerade zumindest teilweise entstehende solidarische Bewusstsein aufzugreifen und auszuweiten. Unsere Solidarität macht weder vor nachbarschaftlichen Grenzen Halt, noch vor nationalstaatlich gesetzten Grenzen.
Konkrete Beispiele einer bereits bestehenden Praxis, die sich partiell Handlungs-möglichkeiten zurückerkämpft, lassen sich an verschiedenen Stellen alleine schon in unserem direkten Umfeld finden: die Menschenkette der Seebrücke Frankfurt am 5. April, widerständigere Aktionen wie von Riseup4Solidarity, im Zuge derer ganz Frankfurt mit Bannern, Graffitis und Tags verschönert wurde und vieles mehr. Bundesweit zeigen etwa die Aktionen von #besetzen mit Livestream aus Berlin am 28. März oder die zahlreichen Aktionen in vielen Städten anlässlich des 1. Mai, wohin die Reise gehen kann. Verschiedene Initiativen versuchen auch mit Online-Demos den Charakter physischer Kundgebungen auf den digitalen Raum zu übertragen. Daran müssen wir anknüpfen und uns Wissen zu ungehorsamen Aktionsformen im digitalen Raum aneignen, beziehungsweise diese praktisch erproben.

Wieder einmal trifft es in dieser Krise die ohnehin Prekarisierten der Gesellschaft am stärksten: Kranken- und Altenpfleger*innen, prekär Beschäftigte, Wohnungslose, Alleinerziehende, Migrant*innen, Frauen und Queers. Dass diese auch in digitalen Räumen unterrepräsentiert sind, erschwert unsere Handlungsmöglichkeiten noch zusätzlich. Es ist notwendig, dass wir auch im öffentlichen Raum, beispielsweise durch Aktionen, Banner oder Plakate, Aufmerksamkeit schaffen. Hier müssen Kämpfe geführt, weitergeführt und verstärkt werden. Dabei dürfen allerdings die brennenden Probleme unserer Zeit - die Krise von Ökologie und Kapital - nicht hintenanstehen. Denn sie sind die Grundlage vieler anderer Krisen. Es geht darum, Versuche zu starten - wie es schon einige vorgemacht haben - unsere Handlungsmacht auf die Probe zu stellen. Diese Aufgabe geht über die Zeit der Pandemie hinaus. Wir sollten auch jetzt schon die Situation nach Corona mitdenken, ohne uns aber, bedingt durch die schnellen Veränderungen, in ständigen Prognosen zu verlieren. Aber so oder so: Lasst uns für die jetzige und die kommende Zeit Netzwerke schaffen, uns organisieren und Aktionserfahrungen sammeln!

In den kommenden Tagen und Wochen gibt es einige Anlässe, die dazu einladen, kollektiv neue Wege auszuprobieren, sich auszutauschen und neue Erfahrungen zu gewinnen, um uns im Agieren für eine rebellische Politik weiterzuentwickeln. Wir müssen jetzt anfangen, die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zum Wanken zu bringen. Fangen wir jetzt damit an: Mutig, auf neuen Wegen, mit kreativen Aktionen, ob verdeckt oder offen! Die Nächte sind lang! Lasst sie uns nutzen.


Anmerkung

Ökologisch Radikal Links. Unter diesem Namen wurde in Frankfurt für den 24. April 2020 eine antikapitalistische Mobilisierung für den Global Climate Strike geplant. Aufgrund der veränderten Situation konnte diese nicht wie geplant stattgefunden. Seitdem hat sich Ökologisch Radikal Links der Bildungsarbeit verschrieben und veranstaltet unter anderem einem eine Online-Veranstaltungsreihe und eine Social-Media-Kampagne zu Geschichte und Gegenwart ökosozialer Kämpfe. Zudem wurden Banneraktionen durchgeführt.

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